Modellbildung
Systemdynamik
Eine wichtige Erkenntnis der Chaosforschung und der mathematischen Topologie ist die, dass die
Dynamik eines komplexen Systems aus der Zeitreihe von
Daten einer einzigen Komponente des Systems rekonstruiert werden kann. Dies geht um so besser, je mehr Daten verfügbar und je sauberer, d.h. störungsfreier, die Daten sind. So ist es bei mathematischen Systemen einfacher als bei physikalischen, denn für mathematische Systeme kann man beliebig viele Daten produzieren, während man für physikalische Syteme auf Messdaten angewiesen ist. Fast immer hat man zu wenige davon. Oft sind sie zu ungenau und zudem können sie fehlerhaft sein. Noch schwerer ist die Rekonstruktion von biologischen und sozialen Systemen, denn diese folgen nicht stets gütigen Gesetzen und sie sind nicht eindeutig bestimmt, d.h. sie sind nicht widerspruchsfrei. Außerdem sind die Wechselwirkungen innerhalb des Systems mit der Zeit veränderlich, weil in lebenden Systeme auch Lernprozesse stattfinden, die zu Anpassungen führen können, mehr dazu weiter unten.
Phasenraum
Ganz oben auf der Seite sehen Sie grafische Darstellungen von Zeitreihen verschiedener
dynamischer Systeme. Von links nach rechts sind das: die ungedämpfte oder Sinusschwingung,
(Bilder 1, 2)
die logistische Funktion (Bilder 3, 4) und eine Komponente des dreidimensionalen Wettermodells von
Edward Lorenz (Bilder 5,6). Die beiden Abbildungen rechts sind übrigens zelluläre Automaten,
Beispiele für diskrete dynamische Systeme. Durch das Zusammenwirken vieler
einzelner Prozesse mit minimaler Komplexität, können sehr komplexe
Verhaltensweisen entstehen, wie in der Abbildung ganz rechts. Derartige Muster werden
tatsächlich auch von lebenden Organismen erzeugt. Man findet sie z.B. auf den Gehäusen tropischer
Meeresschnecken.
Für die oben angesprochenen dynamischen Systeme gibt es jeweils zwei Darstellungen: eine herkömmliche,
bei der die Werte gegen die Zeit aufgetragen sind (Bilder 1,3,5) und eine Phasendarstellung, bei der
die Werte zeitversetzt gegeneinander aufgetragen werden (Bilder 2,4,6). Der Zeitversatz wird mit dem
griechischen Buchstaben tau gekennzeichnet. Der Betrag von tau ist frei wählbar und bleibt innerhalb
der Abbildung konstant. Bei geeigneter Wahl von tau kann man oft auch für kompliziert
anmutende Zeitreihen in der Phasendarstellung eine geordnete Struktur erkennen. Diese
Struktur ist die Basis für ein Verhaltensmodell eines dynamischen Systems.
In den Beispielen, die oben zu sehen sind, handelt es sich um grafische Darstellungen
mathematischer Funktionen. Im Falle der logistischen Funktion und des Wettermodells
sind sie zwar chaotisch, doch sie sind vollständig bestimmt, d.h. ohne Zufallseinflüsse und
widerspruchsfrei.
soziale Systeme
Ein bekanntes Beispiel für diese Art von Systemen sind Märkte. Sie unterscheiden sich von mathematischen und
physikalischen in vielfacher Hinsicht. Die Unterschiede sind bedeutsam für die
Erstellung und für den Gültigkeitsbereich von Modellen. Bei realen Systemen
hat man es, anders als bei mathematischen immer auch mit Messfehlern und Störungen
zu tun. Dies ist bereits bei physikalischen Systemen der Fall. Bei sozialen Systemen
kommt erschwerend hinzu, dass in diesen nicht Masse oder Energie, sondern
vor allem Information ausgetauscht wird. Dabei entstehen Übertragungsfehler, Verarbeitungsfehler und
Fehlinterpretationen. Wir alle wissen, dass Menschen keine rein rationalen Wesen sind, dennoch fehlen psychologische Komponenten in den Modellen der exakten Wissenschaften
ganz und gar. Individuelle Gefühle, wie Furcht und Gier, gesellschaftliche Stimmungen
oder Instinkte, wie den Herdentrieb, Masseneuphorie oder Panik beispielsweise, gibt es in mathematischen oder physikalischen Modellen nicht.
Sie kommen nur in sozialen Systemen vor. Anders als bei den physikalischen Systemen gelten bei sozialen
Interaktionen keine zuverlässigen Naturgesetze, sondern Regeln, für die es
auch die eine oder andere Ausnahme gibt. Dazu kommt ein weiterer sehr wichtiger
Unterschied: soziale Systeme sind anpassungsfähig. Auf das Verhalten von Märkten bezogen bedeutet
es, dass die Marktteilnehmer aus eventuellen Fehlern lernen und ihr Verhalten ändern
können, als Folge daraus ändert sich auch die Systemdynamik.
Will man die Dynamik von
Finanzmärkten modellieren, bieten sich Zeitreihen von Kursen als die am leichtesten zugänglichen
Daten an. Aktuelle Daten kann man nahezu ohne Zeitverzögerung erhalten und historische Zeitreihen sind ebenfalls leicht und kostengünstig zu bekommen. Darum sind Kursdaten besonders geeignet, um die Marktdynamik daraus zu rekonstruieren.
Jeder Punkt im Phasenraum entspricht einem möglichen Marktzustand und die Reihenfolge
der Punkte entspricht der zeitlichen Abfolge der Marktzustände. Im Laufe der Zeit
nimmt das System immer wieder Zustände an, die solchen ähneln, die es in der
Vergangenheit bereits durchlaufen hat. Dies wird meist erst dann deutlich, wenn man zeitlich weiter auseinander liegende Daten von Marktzuständen mit Linien verbindet. Die eigentliche Marktdynamik ist nämlich von kurzfristigen Zufallsschwankungen überlagert. Bei geeigneter Glättung der Marktdaten ordnen sich aufeinander folgende Marktzustände zu Bahnen,
die oft eng beieinander und über längere Strecken nahezu parallel verlaufen.
Wenn der aktuelle Verlauf der Zustände des Systems eine ähnliche Entsprechung in
der Vergangenheit hat, dann ist zu erwarten, dass die folgenden Zustände wiederum ähnliche
sein werden, wie man sie in der Vergangenheit beobachtet hat. Diese, Selbstähnlichkeit
genannte Eigenschaft, ist für chaotische Systeme typisch und bildet die Grundlage
für die Vorhersage der Systementwicklung.
Zusammen genommen heißt dies für die Aufstellung eines Marktmodells, dass es schwierig
und aufwendig ist und außerdem von Zeit zu Zeit überprüft und eventuell
korrigiert werden muss. Die Rohdaten müssen von Störungen (Rauschen) befreit werden.
Da man die Marktdynamik nicht kennt, ist es nicht immer eindeutig zu sagen, welche Daten die
eigentliche Marktdynamik hervor gebracht hat und was Rauschen ist. Glättet man willkürlich, dann verschwindet
neben dem Rauschen auch wichtige Information. Wann man ein Marktmodell überarbeiten
muss, erkennt man bald, falls man darauf ein Handelssystem gegründet hat. Wenn
die Charakteristik des Handelssystems, d.h. die Ergebnisse sich deutlich verändern,
dann ist es Zeit, das Modell zu prüfen, siehe dazu auch unten 'Märkte im Wandel'.
Marktmodelle
Finanz und Wirtschaft
Zur Klärung sei gesagt: hier geht es nur um Modelle für Finanzmärkte und das hat gleich mehrere Gründe:
Erstens sind sie viel übersichtlicher und viel weniger komplex als realwirtschaftliche Märkte, zweitens kann man aktuelle Informationen zu
Finanzmärkten praktisch im zehn Sekunden Takt erhalten, während man Daten zur
Realwirtschaft vergleichsweise selten und dann erst mit Verzögerungen von einem Monat und mehr
bekommen kann. Drittens sind die Finanzmärkte und die Realwirtschaft eng miteinander verknüpft, wobei
die Entwicklung der Finanzmärkte als Frühindikator für die
wirtschaftliche Entwicklung gilt.
Analyse und Prognose
Was sind eigentlich Marktmodelle? Warum braucht man sie und welche gibt es? Marktmodelle sind vereinfachende Vorstellungen von realen Märkten. Sie versuchen, mit Hilfe weniger
Regeln, die aus dem Verhalten des Marktes in der Vergangenheit abgeleitet wurden,
die künftige Preisentwicklung am Markt vorherzusagen. Eine Übersicht der
verschiedenen Marktmodelle, Beispiele und ausführliche Diskussionen finden Sie im Buch des Autors:
Finanzmarktanalyse - Neue Ansätze aus der Chaosforschung, (Uhlig, 1999), Verlage: Vahlen,
Helbing + Lichtenhahn.
Nicht jeder Marktteilnehmer verwendet ein Marktmodell. Einige folgen bei ihren
Entscheidungen den Empfehlungen Dritter. Um aber Empfehlungen aussprechen zu können,
sollte man eine klare Vorstellung von der Marktentwicklung besitzen, also über ein
Marktmodell verfügen.
Veraltete Modelle
Die meisten der heute verwendeten Marktmodelle sind veraltet. Sie gehen von
vernünftig klingenden, aber irrigen Annahmen aus und sind daher nicht nur unbrauchbar,
sondern schädlich. Weder Aktien- noch Devisen- oder Rohstoffmärkte lassen
sich damit auch nur näherungsweise vorhersagen. Prognosen, wenn es sie denn gibt,
liegen oft so weit daneben, dass sie den Namen nicht verdienen. Lineare Trends, die von
zufälligen Schwankungen überlagert werden, sind die Grundannahme vieler
Modelle, obwohl es eine Fülle von Daten gibt, die dieser Annahme widersprechen.
Warum aber folgte man den falschen Modellen, wird sich mancher fragen. Nun, der Erfolg schien
denen Recht zu geben, die an die ewigen zweistelligen Renditen glaubten. In Wirklichkeit
hatten sie lange Zeit einfach nur unfassbar viel Glück.
Irrtümer
Mehrere zentrale Annahmen der Finanzmarkttheorie sind durch empirische Daten widerlegt worden.
Die Märkte folgen keinem Zufallspfad, sie sind nicht effizient, die Marktteilnehmer
verhalten sich nicht rational, die Erträge sind nicht log-normalverteilt, Märkte sind
nicht stationär. Näheres finden Sie im bereits oben erwähnten Buch des
Autors. Einige Beispiele für Fehlannahmen können Sie auch sehen, wenn Sie oben oder gleich hier bei
'Wunsch und Wirklichkeit' klicken.
Konsequenzen
Die Irrtümer haben Folgen, wie man aus der jüngsten Finanzkrise lernen kann.
Dass die Gewinnphase vorher unerwartet lang und die Zuwächse besonders hoch waren,
hatte man freudig zur Kenntnis genommen, sich aber sonst offenbar nichts dabei gedacht.
Wer fragt schon nach Gründen, wenn die Erträge höher sind als erwartet. Aber dies waren
bereits klare Anzeichen dafür, dass das Marktmodell nicht stimmen konnte.
Schlimm wurde es, nachdem sich der Markt gedreht hatte. Die andauernde Abwärtsbewegung mit
starken Ausschlägen nach unten, kam unerwartet und war im Modell nicht vorgesehen, weil
viel zu unwahrscheinlich. Wenn die Schwankungen zufällig gewesen wären,
hätte eine solche Folge starker Abwärtsbewegungen in vielen Milliarden
Jahren nicht geschehen sollen, siehe dazu auch oben 'Wunsch und
Wirklichkeit'. Darum war das Risikomanagement der Banken auf diese
Situation nicht vorbereitet und die Überbrückungsreserven somit viel zu gering.
Hätten die großen Notenbanken und die Regierungen der bedeutenden Wirtschaftsmächte
allein die Selbstreinigungskräfte des Marktes walten lassen und nicht gewaltige
Rettungsanstrengungen - mit dem Geld der Steuerzahler - unternommen, um die Märkte mit Geld zu
stützen, dann wäre nicht nur Lehman Brothers, sondern viele andere Großbanken
pleite gegangen. Darunter wären auch jene gewesen, die jetzt mit breiter Brust
daher kommen, weil sie sich schon wieder so gesund fühlen, dass sie keine
zusätzlichen Staatshilfen benötigen.